Haben oder Sein: To be or not to be...

       Stucken- Woher kommt dieser Name?

   ( aus den Aufzeichnungen meines Vaters Fritz Kluckhuhn, 1910 bis 1993 )

Wahrscheinlich handelt es sich um eine alte Flurbezeichnung. Nach Abholzung der Wälder blieben die Baumstubben oder Baumstukken stehen. Solche Flächen wurden zunächst von den Landwirten als Hude (gemeinsame Weidefläche) benutzt. Hütejungen trieben das Vieh zu den Baumstucken.

Nach Verrottung der Baumstümpfe entstand hier später Ackerland. Der Name für das Gebiet „Auf den Stucken“ oder „Stucken“, auch „Stuken“  blieb erhalten.

Noch bis Anfang des vorigen Jahrhunderts reichte der Wald mit seinen riesigen Eichen und Buchenbäumen vom Wiembecker Berg bis an unseren Hof. In den ersten Jahren des 20. Jhts. wurde dieses fürstliche Domänengebiet nach und nach abgeholzt und „urbar“ gemacht. Meinem Großvater wurde eine Fläche südlich von uns für einige Jahre pachtfrei überlassen unter der Bedingung, die Baumstümpfe zu roden. Das geschah in schwerer Handarbeit und auch mit Alfred Nobels Hilfe: Mit Eisenstangen wurden seitlich durch die Erde Löcher unter die Stümpfe getrieben, in die Dynamitpatronen geschoben wurden. Die Explosion drückte den Stumpf aus der Erde und zerriß ihn manchmal. Das Wurzelwerk diente einige Winter als Heizmaterial.

Ein Baum ist aus dieser Zeit noch übrig geblieben: Die majestätische Buche ist von weitem zu sehen.

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So sah der Stucken vor 100 Jahren aus: 2 Gehöfte: Blattgerste mit der Adresse Stucken Nr.2 und Kluckhuhn, Stucken Nr. 84. (Skizze meines Vaters Fritz Kluckhuhn)

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Und so sieht der Stucken heute aus (2009 vom Waldrand aus fotografiert)

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Stucken-AnekdotenDer Pad zum Glück

Früher führte ein kleiner  Fußweg vom Buschkamp durch eine Wiese am Bach entlang direkt zu unserem Hof.
Der Bach ist längst verrohrt und mit Erde angefüllt worden. Dort liegt jetzt das Haus von L.
Auf dem Buschkamp wohnt auch heute noch die Familie E. Der Opa, er ist schon lange tot, war aus dem Kriege mit einer Frau zurückgekehrt. Die Nachbarn sagten: "Er ist kriegsversehrt"; denn seine Frau konnte weder kochen noch den Haushalt gut führen. Auch sonst hatte sie wenig Lust, ihm zu dienen.
Als es eines Tages mal wieder über ihn kam und er sie erwartungsvoll bedrängte, wehrte sie ihn wieder ab.
Enttäuscht und wütend wendete er sich ab, zog seine Holzschuhe an und rief: "Jetzt gehe ich den alten Pad runter zum Kluckhuhn's Friedrich! Der soll bei mir machen, was er bei den Schweinen kann."
Man muss dazu wissen, dass mein Opa der lippische Ferkelkastrierer war und überall für seine gründliche Arbeit gelobt wurde.
Als er sich nun einige Schritte von seinem Haus entfernt hatte, ging ein Fensterflügel auf, der Kopf seiner Frau kam hervor, und es erschallte laut: "Komm man wieder her! Du kannst haben, was du willst!"


Die Stimme vom Wiembecker Berge

Meinen Onkel Heinrich habe ich leider nicht gekannt. Er ist  lange vor meiner Geburt im 2. Weltkrieg getötet worden, man sagt "gefallen". Ein großer Mensch soll er gewesen sein, mit Bärenkräften und Händen wie Kiesschaufeln. Weil er in seiner leicht erregbaren Art einen Vorgesetzten angegangen hatte, wurde er  in ein Strafbataillon vor Leningrad versetzt. Bei einem Erkundungsgang durch feindliche Linien ist er am Heiligabend 1943 durch feindliches MG- Feuer erschossen worden. Er war 24 Jahre alt.
Er soll auch eine schöne, kräftige Stimme gehabt haben.
Wenn ihm danach zu Mute war, ging er hoch auf den Wiembecker Berg zu, stellte sich unter die ersten Buchen des Waldes und fing an zu singen.
Selbst in Brake, das ist ja um die tausend Meter entfernt, soll sein Gesang zu hören gewesen sein.- Aber damals war es ja auch noch nicht so laut wie heute!


                       Kinderzeit und Politik

Es war in den Nachkriegsjahren zu meiner frühen Kindheit. Ich ging in die erste Klasse der Volksschule am Marktplatz. Die stand da, wo heute statt Bildung Geld geprüft und getauscht wird. An eine seltsame Tierskulptur auf einem Ecksockel kann ich mich noch erinnern, eine Mischung aus Schwein und Bär? Wir hatten  gerade beim Herrn Lehrer Höttger das ABC gelernt.
Zu der Zeit gab es bei uns zuhause noch einen Abort im ursprünglichen Sinne. Der gewisse Ort war abseits, nämlich außerhalb des Wohnhauses: Ein ummauerter Quadratmeter im Durchgang zum Stall, ein Plumsklo.
Es war die Zeit der weitgehenden Selbstversorgung: Wir aßen, was Garten und Felder und unsere Arbeit direkt hergaben und der entsprechende Abfall wurde wieder aufs Feld gebracht. Es gab kein Toilettenpaper. Die alten Ausgaben der Tageszeitung standen dafür zur Verfügung, in handliche Stücke geschnitten und auf einem Eisenhaken an der Seitenwand aufgespießt.
Dort konnte ich meine ersten Lesekenntnisse ausprobieren. Und so buchstabierte ich denn eines Tages in den Schlagzeilen die Namen von Menschen, die auch immer in den Radionachrichten vorkamen. Das sind Politiker,  hatte man mir gesagt. Da stand in großen, schwarzen Buchstaben Adenauer, Ollenhauer, Eisenhower. Nun wusste ich, was Politik ist: Es musste was brutales sein, denn es hatte mit hauen und aua zu tun.

Der Stucken - ein verlorenes Paradies

Auf dem Stucken 84- so hieß meine Wohnadresse als Kind. Wir lebten auf einem kleinen Bauernhof am Rande des Dorfes Brake. Wir- das waren meine Eltern, Oma, Uroma sowie ein Pferd, 3 Kühe, mehrere Schweine und viele Hühner.
Hinter der Scheune an einem großen alten Nussbaum flossen zwei Bäche zusammen: Der vom Buschkamp und der Waldbach mit kristallklarem, frischem  Wasser. Seine Quelle lag am Wiembecker Berg, 5 Minuten zu Fuß bergauf. Zwischen Moos und Steinen in einer kleinen baumbeschatteten Senke sprudelte dieser Lebensborn aus der Erde. Hier gebar (born) die Natur ein Lebensmittel in Reinheit und Fülle, kostenlos und ohne Unterlass. Besonders an heißen Sommertagen bei der Heuernte war es ein köstliches Labsal- ohne Vergleich mit einer heutigen Pausencola.
Neben dem Heuen hatte ich gelegentlich noch zu melken und die Kühe zu hüten "in der Grund". So wurde das kleine Tal mit dem Buschkampbach genannt. Dort gab es eine riesige Brombeerhecke, undurchdringlich wie bei Dornröschen, und dort lag auch unser Brunnen. Durch eine Leitung mit Gefälle floss das Wasser bis in den Stall. Sehr langsam: Bis der Eimer voll war, konnte man einige Zeit innehalten, auch im Winter, denn im tiergewärmten Stall war es anheimelnd. Das Wasser war sehr begehrt, so dass Nachbarn es für den besonderen Festkaffee geholt haben sollen.

Jede Jahreszeit hatte ihre Attraktionen. Im Frühling konnte ich die wieder erwachende Natur erleben. Ein herrliches Gefühl: Zum ersten Mal wieder nach langer Zeit sich in der Wiese einfach fallen lassen. Du liegst auf dem Bauch und atmest den Duft der frisch sprießenden Pflanzen, schaust den kleinen Käfern und Spinnchen zu, wie sie zwischen den Sträuchern  ihr Werk verrichten: Eine kleine Welt für sich im Urwald des Wiesenbodens.


Der Sommer war erfüllt mit Hitze und Schweiß, mit erfrischendem Bad im Feuerteich und mit Ehrfurcht vor den Naturgewalten, die Leben und Ernte gefährden konnten. Warum war der große Kirschbaum so krumm und einseitig gewachsen? Es geschah vor meiner Zeit: Während Opa beim Gewitter im Scheunentor stand, schlug vor ihm der Blitz in den hohen Baum und spaltete ein langes Stück Rinde ab.
Nach der Heuernte kam im August das Korn dran: Die gemähten Halmschwalle wurden zu Garben gebunden und in Hocken zum weiteren Trocknen aufgestellt- alles in Handarbeit. Ich war stolz, als ich mit 8 oder 10 Jahren zum ersten Mal mit den Halmen ein dickes Strick drehen und damit eine Garbe zusammenbinden konnte. Als Belohnung lockte der Biss in den ersten Apfel seit vielen Monaten. Wir hatten einen frühen Grafensteiner mit einem schiefen Stamm. Mit genügend Anlauf gelang es, daran hoch zu laufen bis zu den ersten Ästen. Auch wenn er noch nicht ganz reif war- dieser erste Biss in den knackigen Apfel mit dem süßsauren Saft war ein Genuss, der bis heute unerreicht ist- trotz aller Kiwis und Bananen rund um die Uhr.

Herbst hieß vorsorgen für den Winter. Kartoffeln für uns, Runkel für die Tiere, und Obst einwecken. Ist der Begriff noch bekannt? Hier werden Äpfel, Kirschen, Stachelbeeren u.a. zum Schlafen ins Glas gebracht, damit sie beim Aufwecken noch appetitlich sind. So stellte ich es mir als Kind vor. Der Begriff kommt aber vom Johann Weck, der die Patente vom Erfinder erwarb.

Winter, das war der Geruch von Schneeluft und Vergnügen mit der weißen Pracht:
Das Schilaufen lernte ich am Hang hinter der Scheune mit geliehenen Brettern vom Nachbarn Klaus. Meine Gummistiefel waren mit Strohband am Blech einer gebogenen Eschenlatte befestigt.
Winter, das waren auch die langen, ruhigen Winterabende in der großen Küche: Das Feuer des Küchenherdes verbreitete wohlige Wärme mit Knistern und Puttappelduft. Durch die Löcher in der Kochplatte warfen die Flammen Lichtpunkte an die Decke. Sie tanzten einen wilden ausgelassenen Tanz ohne jede Regel und Vorschrift, ein wunderbares Chaos. Links neben dem Herd stand die Holzkiste, die immer gefüllt sein musste. Dafür sorgte ich. Rechts neben dem Herd war der Platz meiner Uroma in einem alten Rohrsessel, der noch heute existiert. Sie hat bis kurz vor ihrem Tod mit 96 Jahren die Kartoffeln geschält und auch sonst für das Essen gesorgt.

So hatte jede dieser vier Generationen ihre Aufgabe. Ich kann  mich nicht an große Konflikte z.B. wegen nicht erledigter Aufgaben erinnern. Es war ein friedliches, genügsames und zufriedenes Leben im Einklang mit dem Kreislauf der Natur. Alles hat seinen Platz, existiert miteinander, greift ineinander. Damit die Mäuse sich nicht zuviel vermehren und unser Korn wegfressen, ist die Katze da. Und die Maus ist da, damit die Katze nicht verhungert. Das Pferd und der Mensch pflügen, säen und ernten. Das Pferd frisst das Stroh und wir das Korn und unser Mist dient der neuen Saat zur Lebenskraft. "Das Universum ist freundlich" sagte Einstein. Ich habe es damals erfahren. Wenn man mit ihr richtig zusammenarbeitet, gibt die Natur auf Dauer alles, was zum Leben nötig ist. Ihre Zuverlässigkeit schenkte mir Vertrauen. Niemals wäre ich als Kind auf eine Frage gekommen, die ich mir heute manchmal stelle: Könnte es sein, dass die Buche in diesem Frühling sich weigert zu grünen, weil wir der Natur soviel angetan haben?

Sehe ich meine Kindheit idealisiert nostalgisch? Harte Erfahrungen habe ich beiseite gelassen, wie den undankbaren Biss vom Nachbarhund Asra in mein Handgelenk. Auch andere Narben sind noch zu sehen. Aber Schmerzen und Erkrankungen waren normale Episoden im Leben. Die starken Selbstheilungskräfte der Natur ließen sie bald vergessen. An Arzt- oder Tierarztbesuche kann ich mich kaum erinnern. Und der Tod im Alter gehörte zum Kreis des Lebens.


Wie sieht der Stucken heute aus? Die moderne Zeit hat auch hier zugeschlagen!
Nebenan bringt eine 110 000 Volt Leitung mit riesigen Masten die Stromkraft übers Land.
Der Buschkampbach wurde verrohrt und die Grund füllte sich mit Wohlstandsmüll.
Unser Brunnen war dadurch unbrauchbar geworden; wir bekamen einen Anschluss an das öffentliche Wassernetz.
Der Waldbach fällt seit vielen Jahren im Sommer trocken und aus dem Buschkamprohr kommt Kloake.
Zivilisationskrankheiten haben nicht nur Menschen befallen: Der Wein hat Mehltau, die Sauerkirschen  bekamen Monilia und wurden abgeholzt, die Birnbäume haben Gitterrost, Stachelbeermehltau...
Und jetzt wurde vorm Wald, da wo früher die Rehrudel lang zogen, die Umgehungsstrasse gebaut...